Theaterspektakel am Kölner Schauspiel Zwölf Stunden Theater

Köln · Julien Gosselins Roman „2666“ ist in Köln am Osterwochenende als Kölner Theatermarathon über die Bühne gegangen.

 Reizgewitter aus Nebel und Stroboskopblitzen.

Reizgewitter aus Nebel und Stroboskopblitzen.

Foto: Simon Gosselin

"Hier wird man für einen Tag aus der Welt geschossen“, freut sich die Dame gegenüber. Wir verzehren gerade Eintopf und Tafelspitz in der ersten von vier Esspausen, die Julien Gosselins „2666“ zum insgesamt elfeinhalbstündigen Marathon machen. Formatsprengendes Theater mit Vollpension. Stefan Bachmann hat die französische Bühnenversion von Roberto Bolaños Roman zum zweitägigen Gastspiel ans Kölner Schauspiel geholt, das als einziges deutsches Theater diesen Kraftakt wagt. Chapeau!

Schon der morgendliche Auftakt um elf Uhr im Depot 1 lässt frösteln. Da würgt die übersinnlich begabte Florita ihre Visionen hervor: „Getötete Mädchen, getötete Frauen!“, alle massakriert im mexikanischen Santa Teresa. Diese Grenzstadt steht für Ciudad Juárez, das mit einer beispiellosen Mordserie an Hunderten von Frauen traurigste Berühmtheit erlangte. Santa Teresa wird zum Höllenschlund, in den das höchst bizarr gemischte Personal von „2666“ gesaugt wird. So sucht in Teil eins die Londoner Germanistin Liz mit drei in sie verliebten Kollegen den geheimnisvoll abgetauchten Autor Benno von Archimboldi – und stößt auf Santa Teresa.

Dort wohnt auch der spanische Gelehrte Amalfitano (Teil zwei), der im Andenken an Marcel Duchamp Bücher auf die Wäscheleine hängt und seine Tochter Rosa an die Unterwelt zu verlieren droht. Doch Rosa bekommt im US-Journalisten Oscar Fate (Teil drei) einen Beschützer. All dies oszilliert bei Bolaño zwischen intellektuellen Höhenflügen, scharfem Sex, dunkler Poesie und apokalyptischer Zivilisationskritik.

Gosselin und seine Truppe „Si vous pouviez lécher mon cœur“ trumpfen kongenial als künstlerisches Überfallkommando auf: Was die exzellenten Mimen in drei mobilen Wohnwaben zeigen, wird von Kameras verdoppelt oder porentief herangezoomt, während live gemixte Elektro-Rhythmen die Trommelfelle traktieren. Dazu Nebel und grellweiße Stroboskopblitze, in die sich rote Blutspritzer mischen. Diesem Reizgewitter setzen die Schauspieler virtuose Amokmonologe entgegen. Wenn Liz in einer Wahnsinnsarie erzählt, wie ihre gebildeten Begleiter einen unflätigen Pakistani verprügeln, sind wir mitten in den Kulturkämpfen der globalisierten Welt.

Gewiss gibt es Durststrecken (Teil zwei!), die mancher im Parkett per Nickerchen übersteht. Und einige räumen ein, dass sie die französischen Texte phasenweise durchs Hirn strömen lassen, statt stets auf die deutschen Übertitel zu starren. Doch meist pulsiert dieses halluzinatorische Gesamtkunstwerk mit irrwitziger Energie. Da tun die Pausen im (leider nur am Samstag) sonnigen Carlsgarten gut.

In den Pausen endet die Fastenzeit endet üppig und lecker

Dort wie im Foyer und Depot 2 lässt die „Offenbach“-Gastronomie die Fastenzeit zwischen Quiche, Zopf und Pasta ebenso lecker wie üppig enden. „Das passt doch nicht zum Stück“, raunt eine Zuschauerin ihrem Begleiter zu.

Nach sieben Stunden öffnet sich das Herz der Finsternis (Teil vier): Auf schwarzer Bühne leuchten nur jene Zeilen, die von den Martyrien der entführten, vergewaltigten, gefolterten, ermordeten und meist auf der Müllkippe gefundenen Frauen erzählen. Ein fast zweistündiger, musikalisch knallhart verstärkter Horror. An dessen Ende steht die Theorie, dass die Opfer – meist junge Fabrikarbeiterinnen – vorher dem „Vergnügen“ der Drogenhändler dienten.

Nun nochmals Pause, in der einem der zarte Osterbraten fast im Hals stecken bleibt. „Letzte Runde“, sagt meine Sitznachbarin aufmunternd, als das Licht wieder ausgeht und Szenen aus dem Leben des legendären Benno von Archimboldi aufblitzen. Geburt als Hans Reiter in Preußen, Soldatenleid im Krieg, Karrierebeginn in Köln – und vielleicht eine Verbindung zu den Gräueln von Santa Teresa, für die sein Neffe Klaus Haas im Gefängnis sitzt.

Wie Bolaño verweigert auch Gosselin den Schlüssel zu diesem Mysterium. Aber er beschert uns ein unvergessliches Theatererlebnis, das abends um halb elf im immer noch erstaunlich vollen Saal Standing Ovations erntet.

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