Zehn Jahre nach dem Nagelbombenattentat "Ein Signal in die ganze Republik"

KÖLN · Künstler auf der Bühne und 50.000 Menschen davor haben ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt. Das Unwetter zwang zum Abbruch des Kulturfestes rund um die Keupstraße in Köln-Mülheim.

Gespannt warteten Hunderte Menschen vor dem Frisörsalon von Özcan Yildirim. Hier, genau vor zehn Jahren, explodierte die Nagelbombe, die 22 Menschen zum Teil schwer verletzte. Ein Fahrrad aus Pappe mit durchgestrichenem NSU-Schriftzug stand gestern als Zeichen dort. Im Salon wartete Yildirim gespannt auf seinen Gast. Bundespräsident Joachim Gauck wollte sich die Stelle in der Keupstraße selbst ansehen, sich die Geschichte von Betroffenen erzählen lassen. Als er in die Keupstraße einbog und diese entlang spazierte, brandete Applaus auf. Ein kurzes Winken in die Menge, dann verschwand er mit Yildirim im Frisörsalon.

"Wo stand das Fahrrad genau", wollte er von Yildirim wissen. Und der Frisör erzählte Gauck seine Geschichte, von den Verletzungen, der Unsicherheit und dem Ärger danach. Verbitterung war nicht zu spüren. "Ich habe vollstes Vertrauen in die deutsche Politik bei der Aufklärung der NSU-Attentate", sagte Yildirim zum Abschied. Nach einem Besuch im Restaurant "Mevlana" ging es für Gauck auf die große Bühne. Mehr als 50.000 Menschen empfingen den Bundespräsidenten und die Künstler der Großkundgebung "Birlikte - Zusammenstehen".

Nach einer Schweigeminute um 15.50 Uhr - dem Zeitpunkt, an dem 2004 die Nagelbombe detonierte - sprach Gauck auch zur Menge. "Ich bin begeistert vom Geist des Miteinanders hier in der Keupstraße." Moderiert wurde die Großkundgebung von Sandra Maischberger und Fatih Cevikollu, stets in deutscher und türkischer Sprache. "Wir sind heute hier, um ein Signal in die ganze Republik zu senden", sagte Maischberger. Auf der Bühne gaben die Fantastischen Vier den Anheizer für das folgende Großaufgebot an Stars, dass neben den Kölner Bands Brings, Höhner und BAP unter anderem auch Clueso und Andreas Bourani aufbieten konnte.

Neben den musikalischen Höhepunkten gab es auch eine Vielzahl an Wortbeiträgen. Neben WDR-Intendant Tom Buhrow sprachen auch Lukas Podolski per Videobotschaft sowie Semiya Simsek, deren Vater bei einem der Anschläge des Nationalsozialistischen Untergrunds ums Leben kam.

Den stärksten Beitrag lieferte wohl der deutsch-türkische Comedian Serdar Somuncu. Er verlas einen offenen Brief an Beate Zschäpe, die wegen der NSU-Terroraktionen derzeit vor Gericht steht. "Ich verstehe Sie nicht, warum sprechen Sie nicht?"

Die Taten des NSU hätten Deutschland verändert. "Es gehört jetzt uns und auch den Menschen, die sie ermordet haben." Für ein gemeinsames Miteinander müsse gemeinsam ein Kodex erarbeitet werden, um eine neue deutsche Identität dauerhaft zu schaffen.

"Den Künstlern tut es besonders leid, aber wir können nichts machen" (Moderatorin Sandra Maischberger)

Bereits am Sonntag hatte es Zehntausende in die Keupstraße gezogen, um dort ein Kunst- und Kulturfest zu feiern. In den Geschäften und Hinterhöfen, auf über 30 Bühnen und mitten auf eben jener Keupstraße spielte Musik, wurde gegrillt, Literatur vorgelesen oder über den NSU-Terrorismus und dessen Folgen für die Betroffenen diskutiert.

Das Motto "Birlikte - Zusammenstehen" ist hier allgegenwärtig. "Wir lassen uns dieses Gemeinschaftsgefühl hier in Köln von den Rechten nicht kaputtmachen", sagte Oberbürgermeister Jürgen Roters. Vor allem das Straßenfest am Sonntag sei wichtig. "Es bedeutet dieser Straße unheimlich viel", sagte Meral Sahin, Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße, in Begleitung des türkischen Botschafters Hüseyin Avni Karslioglu.

An einem Wochenende voller Zeichen war eines von besonderer Bedeutung, gesetzt ausgerechnet von der Polizei, deren Ermittlungen nach dem Nagelbombenattentat die Bewohner und die Geschäftsleute der Keupstraße so belasteten: Auf Anregung des Bezirksbeamten Mehmet Karapinar spielte das Landespolizeiorchester NRW zusammen mit dem türkischen Nationalorchester ein vor allem türkisch geprägtes Programm.

Auch am Montag verbanden sich die Kulturen auf der Bühne, beispielsweise als die Kölsch-Rocker Brings zusammen mit dem türkisch-stämmigen Rapper Eko Fresh auftraten. Auch das Publikum war begeistert: Mesut Korkut kam aus Dortmund, um ein Zeichen zu setzen. Dem Firmenberater gefiel insbesondere die Kombination aus Information und Musik sehr gut. Sema Türk war mit ihren Freundinnen aus Mönchengladbach angereist: "Veranstaltungen wie diese rütteln auf", meinte sie.

Bereits am Mittag hatte nebenan im Depot1 der Städtischen Bühnen eine Podiumsdiskussion stattgefunden: Der Journalist Hans-Ulrich Jörges sprach mit Bundesjustizminister Heiko Maas, Stefan Aust, dem Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der als Vertreter der Nebenklage am NSU-Prozess mitwirkt, Abdulla Özkan, der bei dem Anschlag vor dem Friseursalon schwer verletzt wurde und der Vorsitzenden der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane.

Özkan schilderte sehr gefasst und sachlich, wie er den Anschlag erlebte und wie Polizei sowie die Behörden ihn schnell vom Opfer zum potenziellen Täter werden ließen. Die Frage, ob ein Staat sich für ein solches Vorgehen schämen müsse, beantwortete Maas mit den Worten: "Das weiß ich nicht, ich ganz persönlich jedenfalls tue es." Stefan Aust, ehemaliger Spiegel-Chefredakteur, sieht denn auch in dem gesamten Verfahren keine NSU-Affäre, sondern eine Staatsaffäre. Mit dem Wort Verschwörung tat sich der Justizminister in diesem Zusammenhang deutlich schwer.

Auf der Bühne der Großkundgebung fand das Programm um 20.15 Uhr ein jähes Ende. BAP stand gerade auf der Bühne und setzte zum dritten Stück an - dem Klassiker "Kristallnaach", als Moderatorin Sandra Maischberger die Bühne betrat. "Ich habe jetzt die schwerste Aufgabe des Abends: Wir müssen die Kundgebung leider abbrechen."

Ein Unwetter zog auf, die Sicherheit der Zuschauer ging vor. "Den Künstlern hinter der Bühne tut es besonders leid, aber wir können nichts machen." Rund 15 Minuten nach dem Abbruch bestätigte sich die Warnung. Ein heftiger Sturm zog über das Festgelände, Blitze zuckten am Himmel und ein sintflutartiger Regenguss ging über dem rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Mülheim herunter.

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