Erinnerung an Schlaganfall aufgeschrieben Aus der Fingerübung entsteht ein Roman

Bad Godesberg · Harald Gesterkamp hat vor einem halben Jahr einen Schlaganfall erlitten. Um seine Fingerfertigkeit wiederzuerlangen, empfahl ihm die Ergotherapeutin das Tippen auf der Tastatur seines Laptops. Jetzt verarbeitet er seine Erlebnisse in der LVR-Klinik mit der Erzählung „Stroke-Unit“.

 Der Schriftsteller Harald Gesterkamp hat seine Erlebnisse aus der Reha zu einem Kurzroman verarbeitet.

Der Schriftsteller Harald Gesterkamp hat seine Erlebnisse aus der Reha zu einem Kurzroman verarbeitet.

Foto: Stefan Hermes

Die Ärzte der LVR-Klinik sagten ihm, er habe Glück gehabt. Der Diagnose nach könnte er jetzt auch im Rollstuhl sitzen. Doch Harald Gesterkamp ist rund ein halbes Jahr nach seinem Schlaganfall kaum anzumerken, was hätte geschehen können, wenn seine Frau nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen hätte, als er beim gemeinsamen Fernsehgucken „den Kontakt zur Geschichte“ verlor, wie er es in seinem soeben veröffentlichten Kurzroman „Stroke-Unit“ sein Alter Ego Tobias sagen lässt.

„Das klappt in Bonn wirklich hervorragend“, sagt Gesterkamp, für den etwa zehn Minuten, nachdem seine Frau den Notarzt alarmiert hatte, seine Lebensrettung begann. „Time is brain“, resümiert Gesterkamp. Der Leitsatz, dass „Zeit Hirn ist“, verdeutlicht die Erkenntnis, dass ohne eine schnelle Behandlung Schlaganfälle oft tödlich verlaufen können oder die Betroffenen aufgrund des Sauerstoffmangels schwere Hirnschäden erleiden. Einen Schlaganfall zu bekommen, war bei dem sportlichen sowie nicht rauchenden Endfünfziger nicht vorhersehbar.

Alter Ego schildert, wie sich der Schlaganfall anfühlt

Acht Tage verbrachte er in der „Stroke-Unit“ der LVR-Klinik. Die operative Öffnung eines Gefäßverschlusses in seiner rechten Gehirnhälfte wurde im Petrus-Krankenhaus durchgeführt. Um seine Fingerfertigkeit wiederzuerlangen, empfahl ihm die Ergotherapeutin das Tippen auf der Tastatur seines Laptops. Gesterkamp schreibt am Ende einer rund 40-seitigen Erzählung: „Er beschließt, in der dritten Person zu schreiben. Das lässt mehr Freiheiten, denkt er und legt los“, sagt Tobias in „Stroke-Unit“. Mit seinem Alter Ego beschreibt Gesterkamp, wie sich ein Schlaganfall aus Sicht eines Betroffenen ansieht und anfühlt.

Er verarbeitet damit größtenteils biografisch sein eigenes Erleben. Nach dem 466 Seiten umfassenden Roman „Humboldtstraße Zwei“ (2016) und der als skurril zu bezeichnenden Kurzgeschichtensammlung „Rückkehr nach Schapdetten“ (2019) ist es Gesterkamps dritte Veröffentlichung, der er aufgrund ihrer Kürze mit „Besuch aus Breslau“ noch eine weitere, wie er es nennt, „existenzielle Geschichte“ hinzugefügte.

Die intensive Auseinandersetzung mit dem Schicksal der eigenen Familie brachte Gesterkamp schon 2013 dazu, die Arbeit an dem Roman „Humboldtstraße Zwei“ zu beginnen. Er erzählt darin von der Hilflosigkeit eines Richters am Amtsgericht in Jauer, einer Kleinstadt in Schlesien, der Adolf Hitler und den Nationalsozialismus verachtet und hautnah erleben muss, wie sich Deutschland zu einem Unrechtsstaat entwickelt. Ein Thema, was den in Münster geborenen und aufgewachsenen Diplom-Volkswirt und Politikwissenschaftler bis heute nicht loslässt.

Interesse an Entwicklungspolitik früh geweckt

Schon vor seinem Studium hatte sich Gesterkamp für Entwicklungspolitik interessiert. Auf einer Veranstaltung in Münster, die sich mit ebensolchen Themen beschäftigte, erlebte er als Schüler einen Journalisten der Frankfurter Rundschau, der von seinem Volkswirtschaftsstudium als dem für ihn richtigen Weg zu einem entwicklungspolitischen Journalismus sprach. „Genau das wollte ich auch“, sagt Gesterkamp. Im späteren Studium musste er allerdings feststellen, dass Entwicklungspolitik dort keine besondere Rolle einnahm.

Doch bereits während des Studiums begann Gesterkamp journalistisch für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) und eine Münsteraner Stadtillustrierte zu arbeiten. „Ich hatte mein Studium bereits mit dem klaren Ziel, Journalist zu werden angefangen. Es gab ja keinen klassischen Ausbildungsweg zum Journalismus“, sagt er. Seine erste Festanstellung als Journalist trat er 1988 bei dem Bonner Stadtmagazin „Schnüss“ an. Den für ihn entscheidenden beruflichen Schritt vollzog Gesterkamp dann 1991 mit seiner Bewerbung bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die damals noch ihr Büro in der Bonner Heerstraße hatte.

Menschenrechte werden auch beruflich das Thema

Mehr als zehn Jahre entwickelte und schrieb er für das „Amnesty Journal“, das er sowohl redaktionell wie auch in der technischen Abwicklung betreute. „Damit fing auch das Thema Menschenrechte an, in mir zu wachsen“, so Gesterkamp. Die Zeit bei Amnesty habe seine politische Sicht verändert. „Es war die Zeit des Mauerfalls und des Zusammenbruchs des Ost-West-Konflikts. Die Menschenrechte bekamen politisch plötzlich eine große Bedeutung“, sagt er und ergänzt, dass er die Zeit rückblickend als sehr prägend für ihn empfand.

Der schon drohende Umzug von Amnesty nach Berlin und der gleichzeitige Wunsch nach einer Veränderung brachte Gesterkamp 2012 als Nachrichtenredakteur zur Deutschen Welle, wo er bis zu seinem Schlaganfall, der ihn zurzeit noch berufsunfähig macht, im Schichtdienst gearbeitet hat. In seiner Erzählung „Stroke-Unit“ vermutet Protagonist Tobias in der Besprechung mit einer Neuropsychologin, dass der ständige Wechsel von Tag- und Nachtschichten für seine Schlafstörungen und letztlich auch für seinen Schlaganfall verantwortlich sein könnte. „Hat das Gehirn jetzt nach zwanzig Jahren die Notbremse gezogen?“, fragt er sich dort. Im „wahren Leben“ hat Gesterkamp bereits 2014 die „Notbremse“ gezogen, als er seine Arbeitszeit auf 60 Prozent verkürzte, um damit vor allem auch mehr Zeit für die Schriftstellerei und die Galerie 62 zu haben, die er zusammen mit seiner Ehefrau und Künstlerin Irmgard Hofmann im Bad Godesberger Reihenendhaus eröffnet hat.

„Stroke Unit/Besuch in Breslau“, zwei Erzählungen von Harald Gesterkamp, Verlag Tredition, 76 Seiten, 10 Euro.

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