Hören, Sehen und Vergehen im Theater im Ballsaal

Das neue Stück "I've seen it all" von Cocoondance spielt mit Ton und Bewegung. Rafaële Giovanolas Inszenierung bricht mit den geltenden Regeln des Tanztheaters.

 "I've seen it all": In Licht- und Tonfragmenten und in Bewegung setzt sich nach und nach ein Puzzlespiel um Liebe und Macht zusammen.

"I've seen it all": In Licht- und Tonfragmenten und in Bewegung setzt sich nach und nach ein Puzzlespiel um Liebe und Macht zusammen.

Foto: Klaus Fröhlich

Bonn. Der Hörspielperformer (Jörg Ritzenhoff) sitzt in seinem Cockpit, einem Kasten mit Überrollbügel, von dem aus er die Szene beherrscht: das Licht, den Ton. Der Hörspielperformer ist an seinen Stuhl gefesselt. Er selbst bewegt sich kaum, aber die Figuren, die er steuert, tun es. Expressiv und zunehmend explosiv. Sie schieben ihn hin und her, um seine Perspektive zu ändern.

Für das Publikum, das an der Wand ringsum die quadratische Bühne des Theaters im Ballsaal Platz genommen hat, ist der Hörspielperformer zu keiner Zeit wirklich greifbar. Er ist Regisseur und Zuschauer zugleich; und damit geradezu die ideale Projektionsfläche für eigene Gedanken. Denn Rafaële Giovanolas Inszenierung "I've seen it all", die neue Produktion von Cocoondance, bricht bewusst und recht gründlich mit den geltenden Regeln des Tanztheaters.

Das Ergebnis ist ein Puzzlespiel. Alles andere als leicht, aber in jedem Fall lohnend. "I've seen it all" erzählt die Geschichte eines Inzestes - doch drängt sie sich dabei keinesfalls auf. Worum es letztlich geht - innerhalb ebenso wie außerhalb der Familie -, sind Liebe und Macht.

Täter und Opfer sind dabei nicht selten ein- und dieselben. Sie bewegen sich in einem Gerüst aus Textfragmenten und Geräuschen; allein, zu zweit, zu dritt. Und sie entwerfen in Skizzen eine Dreiecksbeziehung, schwankend zwischen der gesunden Aggression zum Selbstschutz und einer destruktiven Art der Hingabe.

Inspiriert ist das Stück, das am 16. September in Sierre in der Schweiz uraufgeführt wurde und sich als Hörspiel mit Bewegung versteht, von David Lynchs Spielfilmdebüt "Eraserhead" aus dem Jahr 1977. Zitiert wird durch die Hauptfigur namens Henry, dem die Protagonisten und ihre wechselnden Rollen anfangs so rätselhaft erscheinen mögen wie dem Zuschauer.

Die Doppelung der Akteure, die gespiegelten Szenen, die Umkehrung von Gut und Böse werden ihrerseits auch späteren Werken wie "Lost Highway" oder "Mulholland Drive" gerecht.

Wenn man das so möchte. Man muss aber nicht. Denn "I 've seen it all" erlaubt mehr als ein Stück pro Abend: pro Stuhl nämlich jeweils ein eigenes unverwechselbares. Es gleicht zu Beginn einem beliebigen Experiment mit Licht und Ton. Es kommt nach und nach in Bewegung. Dann ist es zum Glück aber schon zu spät, sich dem noch entziehen wollen. Oder ganz einfach faszinierend.

Bis 23. Oktober, Theater im Ballsaal. Karten unter (02 28) 79 79 01.

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