Hat Sie Ihre Berufung nach Bonn überrascht?
Steven Walter über Beethovenfest Neuer Bonner Intendant will neue Zuhörer gewinnen
Bonn · Der 33-jährige Nachfolger von Nike Wagner will für das Beethovenfest mit neuen Ideen breite Publikumsschichten gewinnen. Im November 2021 tritt er sein neues Amt an.
Steven Walter: Ich habe mich ja in dem Wissen vorgestellt, dass das passieren kann. Es ist aber in der Tat ein großer Schritt für mich.
Seit vielen Jahren wird eine Krise der klassischen Musik beschworen. Das Publikum werde immer älter, der Kreis der Musikinteressierten immer kleiner, heißt es. Stimmen Sie dem zu?
Walter: Ich glaube schon, dass wegen der radikalen gesellschaftlichen und medialen Veränderungen, die wir derzeit erleben, auch gestaltende Veränderungen des Musiklebens notwendig werden. Wir werden nicht für immer „Business as usual“ betreiben können. Das ist immer meine Arbeitsthese gewesen. Ich habe schon früh versucht, für die musikalischen Herausforderungen unserer Zeit praktische Lösungen zu finden und aus diesem Grund auch vor zwölf Jahren das Festival Podium Esslingen mitbegründet. Aber ich halte nicht so viel von dieser Krisenrhetorik, weil sie einfach nicht produktiv ist.
Sie sehen sich demnach lieber als Architekt und weniger als Feuerwehr?
Walter: Unbedingt! Die Umwälzungen und Veränderungen waren ja auch schon vor Corona sehr dynamisch. Wir werden langfristig nur eine Chance haben, wenn wir nach vorn denken, aufbauen und Optimismus und Begeisterung ausstrahlen. Und nicht nur die Denkmalschutzhaltung einnehmen.
Das Beethovenfest ist allerdings ja auch ein klassisch bildungsbürgerliches Festival. Welche Strategien lassen sich denn für ein solches Festival denken?
Walter: Ich habe meine letzten zwölf Jahre in Esslingen am Neckar, ein ebenso bürgerliches Umfeld, gewirkt. Ich bin es also gewohnt, in einem solchen Kontext Veränderungen voranzutreiben – und zwar langsam und stetig. Nach meiner Erfahrung ist das offenste Publikum oft ein bildungsbürgerliches, das, wenn es einmal auf den Geschmack gekommen ist, sich allen möglichen Ideen öffnet. Das ist immer eine Frage der Kommunikation und Zugewandtheit. Für mich sind Tradition und Zeitgenossenschaft kein Widerspruch. Im Gegenteil: Lebendige Traditionen sind immer radikal zeitgenössisch. Ich selbst habe ja als Cellist einen sehr klassischen Hintergrund. Ich möchte auf keinen Fall einen neuen Elfenbeinturm errichten. Das, was ich Innovation nenne, misst sich unter anderem auch am Publikum, an der Anschlussfähigkeit an eine diverse Gesellschaft.
So viele Menschen wie möglich erreichen
Für Sie ist es also durchaus wichtig, Publikumszuwachs zu generieren?
Walter: Es muss mein Ehrgeiz als Musiker und erst recht als Festivalleiter sein, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Wenn man dabei gleichzeitig ein besonderes, profiliertes Programm anstrebt, dann braucht man einen langen Atem und eine gewisse Behutsamkeit. Man überschätzt in der Regel, was man in ein bis zwei Jahren schaffen kann, und unterschätzt oft, was in fünf bis sieben Jahren möglich ist. Wie viel Neues hier in Bonn entsteht, wie viel davon in die Welt geht und wieder zurückfällt auf die Festivalmarke und die Stadt, wird ein Faktor sein, an dem man Erfolg messen muss.
Welche Rolle spielen da die Institutionen vor Ort?
Walter: Ich sehe das Festival als einen agilen Player in der Stadt, der für verschiedene künstlerische Entwicklungen ein Katalysator ist und mit ganz unterschiedlichen Partnern zusammenarbeiten kann. Da ist zum Beispiel das Beethoven Orchester, mit dessen Generalmusikdirektor Dirk Kaftan ich sehr viel philosophische Schnittmenge habe. Da werden sicher interessante und besondere Projekte gemeinsam entstehen. Aber auch für die Oper, das Beethoven-Haus, die Museen und natürlich für die freie Szene soll das Beethovenfest eine Plattform für das Außergewöhnliche sein. Ebenso steckt in Bonn als Universitätsstadt und als UN- und Technologie-Standort großes Potenzial für das Beethovenfest. Schließlich war auch Beethoven immer sehr neugierig und meinungsstark, was die technologischen, politischen und gesellschaftlichen Fragen seiner Zeit anging. Und das sollten wir heute als Musiker auch sein.
Auf der anderen Seite bleibt aber auch die ganz traditionelle Seite des Festivals, die großen Orchestern, Starsolisten und prominenten Kammermusikensembles eine Heimat bietet. Wie stehen Sie dazu?
Walter: Natürlich wird das Werk Beethovens weiter auf diese Weise gepflegt werden. Das Festival muss den qualitativen Anspruch haben, in der Champions League zu spielen. Mir ist es jedoch wichtig, dass sich das Beethovenfest in dieser Champions League als besonders kreative, agile und zukunftsgerichtete Organisation profiliert. Denn im „Klassik-Jetset“, der sich meines Erachtens post-Corona ohnehin ändern muss, spielen sehr viele Akteure mit, und da machen auch die besten und prominentesten Interpreten noch kein profiliertes Programm. Ich möchte auf höchstem Niveau nach Mitspielern suchen, die sich mit uns zusammen auf Besonderes einlassen wollen. Mir ist schon sehr wichtig, dass jedes Konzert — auch jedes mit einem ganz klassischen Repertoire — zu einer Herzensangelegenheit wird und eine besondere Idee entweder des Künstlers oder des Festivals zum Ausdruck bringt.
Fehlende Beethovenhalle als Chance
Wenn Sie 2022 ihr erstes Beethovenfest vorstellen, wird es allerdings noch ohne die Beethovenhalle auskommen müssen. Stört Sie das nicht?
Walter: Nein. Diesen Umstand nehme ich sportlich und finde es auch erst einmal spannend, da er zur Kreativität auffordert. Ich bin es gewohnt, kreativ mit Räumen umzugehen. Natürlich wäre es mit Beethovenhalle einfacher, aber ich sehe in der Situation, wie wir sie jetzt haben, eine Chance, auch andere Gefllde der Stadt zu erreichen, andere Räume zu erkunden und zu durchdringen. Winston Churchill sagte es schön: „Never waste a good crisis.“
Welche Rolle spielt für Sie die historische Erforschung der Musik Beethovens? Aufführungspraktisch oder auch repertoiretechnisch? Ich denke da auch an das Beethoven Orchester, das zurzeit dabei ist, das alte Repertoire der Bonner Hofkapelle zu heben.
Walter: Das finde ich ungemein spannend und möchte es auch gerne vertiefen. Die Entdeckung und Integration der historischen Aufführungspraxis in das Konzertleben halte ich für eine der spannendsten Entwicklungen der letzten 30 Jahre. Mir als Musiker und Musikvermittler ist dabei die sinnliche Dimension wichtiger als die rein wissenschaftliche – so wie für mich überhaupt Sinnlichkeit jedes intellektuelle Konstrukt in der Musik trumpft. In diesem Sinne ist das Potenzial der historischen Aufführungspraxis längst noch nicht erschöpfend ergründet. Dafür muss das Beethovenfest ein Hotspot sein.
Mit Podium Esslingen haben Sie 2017 das Projekt #bebeethoven gestartet, das ja unter anderem auch beim diesjährigen Beethovenfest eine Rolle spielen sollte. Was hat es damit auf sich und welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewinnen können?
Walter: Es ist ein Projekt mit einem sehr zeitgenössischen Fokus, was auch mit dem klaren Auftrag seitens der Kulturstiftung des Bundes als wesentlichem Financier zusammenhängt. Die Idee war: Was können wir aus der historischen Figur Beethoven für zeitgenössische Musikströmungen lernen und ableiten? Was können wir aus seinem Wesen und Wirken für die Jetztzeit übertragen? Wenn Beethoven seine Zeit prägte, welche Entwicklungen und Strömungen prägen unsere? Aus dieser Auseinandersetzung sind sehr spannende Handlungsfelder entstanden. Sowohl, was neue Kompositionen und Kompositionsformen angeht, als auch Interpretationsansätze und Musiktechnologien sowie politische Fragestellungen. Wir haben mit renommierten Partnerinstitutionen zwölf Fellows kuratiert, die ihr jeweiliges Handlungsfeld drei Jahre beleuchtet haben. Sie haben wahnsinnig viel geschaffen und erfunden, haben Durchbrüche erlebt, sind hier und da gescheitert, was wiederrum neue Türen geöffnet hat. Allein die Dokumentation und die vielen Showcases, die wir hatten, haben Entwicklungen sichtbar und übertragbar gemacht. Ich würde „bebeethoven“ als Inkubator für die Frage verstehen, die sich Beethoven — nach allem, was wir über ihn wissen — heute stellen würde.
Beethoven würde auch Spaß haben wollen
Und was würde er tun?
Walter: Beethoven ist eine sehr weltzugewandte Figur. Er würde sich mit der Welt, wie sie jetzt ist, auseinandersetzen und mit großer Kenntnis der Traditionslinie, aus der er kommt, nach vorn in die Zukunft gehen. Er würde hemmungslos für das werben, was er richtig findet – und sich gleichzeitig immer dem Dialog mit seinem Publikum und den Menschen um ihn herum stellen. Er würde auch darauf bestehen, hin und wieder Spaß zu haben. Das Klischee von Beethoven ist der zerzauste, grimmige, dem Schicksal in den Rachen greifende, einsame Komponist. Der Bonner Beethoven ist aber ja der junge, optimistische Salonlöwe, der Bohemien voller Sturm und Drang. Diesen lebensfrohen Beethoven finde ich ebenso inspirierend. Ich würde gerne mitunter dafür sorgen wollen, dass sich die hängenden Mundwinkel unseres inneren Beethoven-Bildes ein wenig nach oben bewegen.
Sie werden in Bonn ja schon bald vorbereitend aktiv werden. Nämlich im kommenden Juli. Werden Sie auch hier wohnen?
Walter: Ich werde auf jeden Fall in absehbarer Zeit einen Wohnsitz in Bonn haben. Auch wenn der Job eine gewissen Mobilität braucht — hier ist viel Arbeit, die man vor Ort machen muss. Ein Festival muss sehr stark auf lokale Gegebenheiten und Netzwerke reagieren. Ich sehe sehr viel Diskussionsbedarf in der Stadt. Und dem will ich mich stellen.