Thema des Jahres - Kein Stein bleibt auf dem anderen

Erdbeben, Feuerwalzen und Vulkanausbrüche kosten tausende Menschen das Leben

Am 17. April steht "Carmen" auf dem Programm der Oper von San Francisco. Der Applaus für den berühmten Tenor Enrico Caruso will nicht enden. Am nächsten Morgen tragen die Zeitungsboten die Nachricht von der Jahrhundert-Vorstellung in jeden Haushalt. Doch kaum einer wird sie lesen. Um 5.26 Uhr löst eine unterirdische Druckwelle, die mit 30 000 Stundenkilometern auf die Stadt an der amerikanischen Westküste zu rast, ein gewaltiges Erdbeben aus - 8,3 auf der nach oben offenen Richterskala. Der Knall der Erdschollen kommt überraschend, aber dass er eines Tages - wieder - kommen würde, wusste jeder Bürger. Man lebt auf dem San-Andreas-Graben, Teil des berüchtigten pazifischen Feuerringes, auf dem sich 90 Prozent aller Erdbeben abspielen. Das Leben in San Francisco steckt voller Risiken.

Am 18. April ist das Risiko keine abstrakte Angelegenheit. Ein Augenzeuge: "Erst dachte ich, es sei eine gewöhnliche Erschütterung, irgend etwas. Dann begannen die Dachkanten der Gebäude abzubrechen, sie stürzten auf die Straße, dann folgte das prasselnde Krachen der Steine, das die Angstrufe der Verwundeten verschlang. Erst darauf kam das furchtbare Senken und Heben, Senken und Heben. Die Stadt wurde wie eine Feder im Sturm umhergeschleudert."

498 Menschen sterben in den Trümmern. 28 000 Häuser werden zerstört, meist Backsteinbauten, zu denen gerade viele repräsentative Gebäude der Stadt gehören. Die Holzhäuser am Rande der City, erbaut im 19. Jahrhundert, überstehen die Naturkatastrophe beinahe unbeschadet, ebenso die neuen, in flexibler Stahlgerippe-Bauweise errichteten Hochhäuser im Zentrum. Carusos Hotelsuite wird völlig zerstört. Der Tenor überlebt und erleidet nur einen Nervenzusammenbruch. Der Star flüchtet mit drei Fuhrwerken voller Handgepäck und verspricht:"Diese Stadt werde ich nie mehr betreten."

Es scheint, als käme San Francisco mit dem Schrecken davon. Doch die Katastrophe steht der Stadt erst noch bevor. Überall hat das Beben Gas- und Stromleitungen zerstört, Kurzschlüsse entstehen, stadtweit lodern kleine Brände. Wasser zum Löschen fehlt, weil auch Wasserleitungen gebrochen sind. Die Stadtverwaltung hatte ihre Lehren aus den verheerenden Beben 1857, 1881 und 1901 nicht gezogen. Folge: Notwasser-Reservoirs fehlen. Das rächt sich. Am Abend des 18. April sind die vielen kleinen Brände zu einer Feuerwalze zusammengewachsen, die, angetrieben vom Wind, auf die City zutreibt. Aus dem Erdbeben ist eine Brandkatastrophe geworden. Hunderte Menschen kommen um, Tausende fliehen auf die Hügel und müssen mitansehen, wie aus San Francisco Schutt und Asche wird. Für einige Tage wird das Kriegsrecht über die Stadt verhängt, um Plünderer abzuschrecken. Aus 250 000 Menschen sind Obdachlose geworden.

Am anderen Ende der Welt hatte elf Tage zuvor der Vesuv gespuckt: Die Ortschaften Somma Vesuviana, Ittaviana und Boscotrecase versinken unter Aschen und glühender Lava. Italien ruft den Notstand aus.

17. August: Die Stadt ist nicht so bekannt wie San Francisco, aber die Katastrophe hat viele Parallelen. Das Schicksal trifft Valpraiso in Chile. Erst das Erdbeben, dann das Feuer. Tausende Menschen sterben.

15. September: Rund um den Vesuv ist man mit Aufräumarbeiten zugange, da entsteht auf Sizilien das nächste Notstandsgebiet. Ein Erdbeben läßt keinen Stein auf dem anderen. Zwei Jahre später, am 28. Dezember 1908 soll das alles noch übertroffen werden. Unter der Meerenge von Messina reiben sich die Erdschollen und führen überirdisch zur schlimmsten Erdbebenkatastrophe in Italien. Bilanz: 83 000 Tote, eine europaweite Hilfsaktion versucht, die Überlebenden durch den Winter zu bringen.

Es ist erstaunlich: Bis heute ist die Erdbebenforschung über "fundierte Orakelei" nicht hinausgekommen. Die Signale der Tiere stellen weiterhin die verlässlichste Vorwarnung für den Menschen dar.

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