Geschichten hinterm Grabmal Neues Buch über den Melaten-Friedhof in Köln erschienen

KÖLN · Die frühere Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner beschreibt mit „Mein Melaten“ den bekannten Kölner Friedhof auf höchst individuelle Weise. Das liegt womöglich auch daran, dass sie dort schon ein Grab für sich selbst besitzt

Die Grabstätte der Kölner Brauerdynastie Früh.

Die Grabstätte der Kölner Brauerdynastie Früh.

Foto: -/Nina Gschlössl

Bündig mit einem kurzen „Ich“ antwortete Barbara Schock-Werner auf die Frage einer anderen Dame, wer denn in diesem schönen Grab bestattet werde. Schock-Werner, viele Jahre Kölner Dombaumeisterin, rückte an jenem Samstag gerade mit der Heckenschere dem Efeu zu Leibe, das sich des Steins auf dem Melatenfriedhof bemächtigt hatte. Dies gehört ebenso zu der von ihr übernommenen Patenschaft für die Ruhestätte wie eine zweite Vereinbarung des Vertrags: jener nämlich, dass sie das Grab somit für sich selbst reserviert hat. Bei einem Rundgang habe ihr der damalige Leiter des Friedhofs, Peter Lejeune, von der Möglichkeit der Patenschaft erzählt. Und als sie kurz darauf auf das Grabmal im neugotischen Stil des 19. Jahrhunderts stießen, sei ihr klar gewesen: „Wenn, dann dieses!“, erzählt Schock-Werner.

Acht Vorschläge für mögliche Rundgänge

Unbefangen über den Tod zu sprechen – selbst über den eigenen: Dieses Anliegen vermittelt die studierte Architektin in einem neuen Buch, das jetzt im Kölner Greven-Verlag erschienen ist. Sie habe keinen auf Vollständigkeit bedachten Friedhofs-, Denkmal- oder Kunstführer schreiben wollen, denn all das gebe es bekanntlich zum Melaten-Friedhof bereits. Vielmehr wolle sie die Geschichten hinter den Gräbern – und den Menschen darin – erzählen. Herausgekommen ist somit kein Taschenbuch im Westentaschenformat, sondern ein gewichtiges Lesebuch mit Leineneinband auf hochwertigem Papier, gedruckt bei der renommierten Kösel-Druckerei im Allgäu, in das man sich immer wieder vertiefen kann.

Letzte Ruhe für kölsche Dynastien: Eine überlebensgroße Engelsfigur schmückt eines der aufwendig gestalteten Grabmäler, von denen auf dem Melaten-Friedhof im Stadtteil Lindenthal zahlreiche zu finden sind   Foto: Benjamin Westhoff

Letzte Ruhe für kölsche Dynastien: Eine überlebensgroße Engelsfigur schmückt eines der aufwendig gestalteten Grabmäler, von denen auf dem Melaten-Friedhof im Stadtteil Lindenthal zahlreiche zu finden sind Foto: Benjamin Westhoff

Foto: Benjamin Westhoff

Damit sich beim Hin und Her auf dem 435 000 Quadratmeter großen Gelände kein Leser verirrt, hat Schock-Werner den Lesestoff in acht Sektionen gegliedert, die man nach und nach „ablaufen“ kann. Eine besondere Überraschung bietet dazu übrigens der Schutzumschlag des Buches: Er lässt sich entfalten und bietet auf der Innenseite einen Lageplan mit allen im Buch erwähnten Gräbern.

Stundenlange Recherchen auf Melaten

„Du wirkst so munter“, habe sie von Freundinnen gehört, erzählt Schock-Werner amüsiert, und ihnen geantwortet: „Ja, ich schreibe ein Buch über den Friedhof!“ Viele Stunden habe sie während der Pandemie auf Melaten verbracht. „Das Ganze hat mich auch ein wenig durch Corona getragen“, sagt sie etwas nachdenklich. Und so wurde die Auswahl größer und größer und wuchs auf 170 Geschichten, bis es gemeinsam mit ihrer  Lektorin und Verleger Damian van Melis zum Schwur kam, auf welche Episoden man verzichten wolle. Der „Kompromiss“ war schnell erzielt: Man mochte auf keine einzige verzichten. Und welche Gräber hat sie für ihre Porträts ausgewählt? Prominenz jedenfalls war kein Aufnahmekriterium, auch wenn die Autorin um die Gräber namhafter Kölner keineswegs einen Bogen macht, wie die Beispiele Willi Millowitsch, Alfred Biolek, Dirk Bach und Marie-Luise Nikuta zeigen. Doch es sind eher die Geschichten und Schicksale, die das Leben schrieb, die sich jetzt zwischen den beiden Buchdeckeln versammeln.

Da ist etwa die Inschrift, mit der Caspar Josef Urbach an seine 1819 mit 25 Jahren früh verstorbene Ehefrau Maria Catharina erinnert: „Dieses Denkmal sey Dir mein Dank und mein Zeugnis in die Nachwelt wie sehr ich Dich schätzte sey nun Du der Schutzengel meiner Zukunft und unseres Geschlechts.“ So etwas, sagt Schock-Werner unverhohlen, treibe ihr noch heute die Tränen in die Augen.

Luftangriff tötete ganze Hochzeitsgesellschaft

Als ebenso kurios wie rätselhaft habe sie hingegen die zahllosen Abkürzungen auf dem Grabmal der Familie Heimsoeth empfunden. Mit Heinrich Heimsoeth etwa hatte einer ihrer Sprösslinge mit 20 Jahren in Bonn in Jura promoviert; später verfasste er das preußische Handelsgesetzbuch, das dann von allen anderen deutschen Ländern übernommen wurde. Die Abkürzungen stehen für all die Orden, die er für seine Leistungen verliehen bekommen hatte. Die „Demonstration von Titeln“, so Schock-Werner, habe sie bei Juristen besonders stark ausgeprägt angetroffen.

Ein schreckliches Schicksal ereilte jene Hochzeitsgesellschaft, die am 31. Oktober 1944 während ihrer Feier in einer Gaststätte an der Aachener Straße vom Bombenalarm ereilt wurde. Die 100 Anwesenden flüchteten in einen Bunker unter dem Friedhof, den es heute noch gibt. Doch in dem Moment erhielt der Eingangsbereich des Bunkers einen Volltreffer, und alle starben. Heute erinnern eine Bodenplatte und ein Kreuz an dieses Ereignis. Manchmal legen Menschen zum Gedenken Steine in eine Nische.

Viele Bezüge nach Bonn

Auch Frauen nehmen beim Rundgang von Barbara ­­Schock-Werner einen Raum ein, etwa Hanna Adenauer, die Nichte des ersten Bundeskanzlers. Um ihren Job als erste Stadtkonservatorin nach dem Krieg hatte sie eisern kämpfen müssen, weil man seinerzeit eigentlich nicht der Meinung war, dass Frauen ein derartiges Amt zuzutrauen sei. Ebenso gibt es eine Reihe von Bonner Bezügen unter den ausgewählten Geschichten: Maria Magdalena von Schiller stammte aus einer wohlhabenden Familie in Vilich und hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes den Sohn des Dichters geheiratet. Er selbst ist auf dem Bonner Alten Friedhof neben seiner Mutter beigesetzt. Warum nicht auch die Ehefrau in Bonn begraben wurde, ist nicht bekannt.

Maria Anna Neumann aus Bonn wünscht man in der Grabinschrift indes, sie möge für die „beispiellose Pflege mit Selbstaufopferung während zehnjährigen Leiden ihres Gemahls“ nunmehr „da oben Belohnung finden“. Mathilde von Nevissen war Tochter eines Großindustriellen, der aber nicht wollte, dass seine Tochter höher Bildung erfuhr. Das Betretungsverbot für die elterliche Bibliothek ignorierte sie konsequent und engagierte sich in der frühen Frauenbewegung, sorgte dafür, dass in Köln das erste Mädchengymnasium eröffnet werden konnte und Frauen an der Universität zugelassen werden durften. Der Familie war dieses Engagement sehr peinlich.

Zustand mancher Gräber lässt zu wünschen übrig

Laura von Oelbermann, die um den Ersten Weltkrieg als reichste Frau Kölns galt und immer achtspännig durch die Stadt fuhr, spendete später ihr Vermögen für wohltätige Zwecke. Inklusive des im Florentiner Stils am Habsburgerring erbaute ­­Stadtpalais, das sie alleinerziehenden berufstätigen Frauen zur Verfügung stellte; bis in die 1970er Jahre war das Wohnheim in Betrieb. Auch die „Klosterfrau“ darf nicht fehlen: Dabei ist das Grab von Maria Clementine Martin ausgesprochen bescheiden und lässt nicht ahnen, dass hier eine Nonne ruht, die auch als eine der erfolgreichsten Unternehmerinnen der Kölner Stadtgeschichte gelten darf. „Ihr Grab könnte, nebenbei bemerkt, deutlich besser gepflegt sein“, schreibt Schock-­Werner.

Dies ist beileibe nicht die einzige Stelle im Buch, an der sich die Expertin für das Stadtbild kritische Untertöne erlaubt. Mit der Überschrift „Sic transit gloria mundi“ versieht sie das Kapitel über das Familiengrab der Bankiersdynastie Herstatt und beschließt den Beitrag wie folgt: „Auch wenn das große Vermögen verloren ist, fragt man sich doch, ob wirklich so wenig übrig ist, dass man nicht einmal das Familiengrab in Ordnung halten kann.“ Und dem Behindertenarzt Hubert August Dormagen wünscht die Autorin jemanden, „der gelegentlich das über sein Grab wuchernde Efeu zurückschneidet“.

Durchgebrannt mit der Bürgermeistertochter

Spürbares Gefallen hat Schock-Werner hingegen für eine Anekdote aus dem Leben des bekannten Unternehmers Heinrich Merkens entwickelt. Dieser gründete nicht nur eine ganze Reihe an Firmen, sondern brannte 1799 mit 22 Jahren mit der damals 17-jährigen Stieftochter des Kölner Bürger­meisters von Wittgenstein durch. Beide ließen sich im preußischen Altena gegen den Willen der Brauteltern katholisch trauen. Die Versöhnung mit den Schwiegereltern erfolgte erst 15 Jahre später, als Merkens ein wohlhabender und wichtiger Mann geworden war.

„Wertvolle“ Tipps für die Fotografin

Von vermutlich ebenfalls wichtigen, älteren Männern mit teuren Fotoausrüstungen berichtet unterdessen Nina Gschlößl. Sie habe bei ihren Besuchen auf Melaten zahlreiche Tipps bekommen, wie man richtig fotografiert, erzählt die ­­Absolventin der Folkwang-­Universität der Künste in Essen schmunzelnd. Bei der Annäherung an die ­­Gräber bei gleichzeitiger Entfernung von „Klischeebild“ eines Grabmals kam ihr die Qualifikation als Porträtkünstlerin entgegen. So enthält ihre Sammlung auch zahlreiche Detailaufnahmen, etwa vom Holzkreuz für Alfred Biolek auf dem Umschlag.

Für Schock-Werner, die natürlich auch manchen verdienstvollen Streiter für „ihren“ Dom am Grab besucht hat, bleibt das Buch ein Plädoyer für den traditionellen, an die dörfliche oder städtische Umgebung angebundenen Friedhof. Friedwälder fernab jeder Infrastruktur seien für ältere Witwen oft schlicht nicht zu erreichen, argumentiert sie. Dass am Eingang zum Melatenfriedhof eine Inschrift („Gedenke, dass Du sein wirst, was wir sind“) alle Besucher daran mahnt, welcher Weg einem jeden vorbestimmt ist, bestärkt Schock-Werner. „Ich hoffe, dass das Buch dazu beiträgt, dass noch mehr Leute ein Patenschaftsgrab übernehmen“, sagt sie. Ihr Ehemann ist inzwischen in „ihrem“ Grab bestattet. Die Dombauhütte schenkte ihr zum 60. Geburtstag ein Grablicht – passend ebenfalls im gotischen Stil mit Glasmalerei.

Barbara Schock-Werner: Mein Melaten. Mit Fotografien von Nina Gschlößl. Greven, 448 S., 32 Euro

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