Kommentar zur Schuldfrage nach der Flutkatastrophe Über Reflexe und Vollkasko

Meinung · Nach der Flutkatastrophe in der Region suchen viele nach Schuldigen – es geht um Behörden- und Politikversagen. In seinem Kommentar beleuchtet Wolfgang Wiedlich die Argumente in der Debatte und verweist auf das eigentliche Problem: den Klimawandel.

 Eine Szene aus Bad Neuenahr nach der Flutkatastrophe.

Eine Szene aus Bad Neuenahr nach der Flutkatastrophe.

Foto: Martin Gausmann

Die Sintflut, der Wahlkampf und die Schuldfrage: Noch sind die Aufräumarbeiten nicht beendet, ist das Ausmaß nur schemenhaft zu erkennen, ruckelt das Toten-Zählwerk jeden Tag weiter, aber die Kritik einer fernen britischen Hochwasser-Expertin reicht, um die im Wahlkampf besonders leicht erregbaren Reflexe der Opposition zu zünden. Nun geht es um Behörden- und Politikerversagen: Gab es eine Lücke im Warnsystem? Hätten Tote und Schäden mit „analogen Sirenen“ verhindert werden können? Wer ist schuld? Solche Fragen suggerieren Fahrlässigkeiten und die Vorstellung, dass die Katastrophe kleiner ausgefallen wäre, wenn Deutschland funktioniert hätte. Tatsächlich hatten die Wetterdienste schon vier Tage vor der Sintflut vor Regenmengen von bis zu 200 Litern pro Quadratmeter gewarnt. Jeder konnte sehen, dass der Süden von NRW zum Risikogebiet wird. Bonn lag tagelang im tief violetten Bereich (höchste Starkregenstufe), aber es traf dann Hagen. Später die Eifel. Denkbar, dass selbst Bewohner einer Eifelschlucht sich von „200 Liter pro Quadratmeter“ nicht bedroht fühlen; dass die Warnung zu abstrakt ist.

Unrealistische Vorstellung von Wettercomputern

Die Vorstellung, dass – zunehmend leistungsfähigere – Wettercomputer für die hügelige Eifel berechnen könnten, über welchem Ort letztlich ein violetter Punkt liegt und über welchem nicht, ist unrealistisch, auch wenn sich die deutsche Vollkasko-Mentalität nach dem Gegenteil sehnt. Natürlich hätte man alle Eifelander, rund 180 000 Menschen in Hunderten Gemeinden, evakuieren oder zur Flucht auffordern können. Realistisch? Im National Hurricane Center in Miami erlebt man dieses Dilemma jedes Jahr. Die Computer rotieren und „sagen“: Es trifft Stadt A, B oder C. Nebenbei: Wer hier den Evakuierungsknopf drückt, löst im gleichen Moment eine Million Dollar Kosten aus. Zudem lehrt das Erfahrungswissen, dass ein Wirbelsturm kurz vor seinem Landgang gerne noch einmal einen Haken schlägt. Von den Kosten einmal abgesehen: Je später die Entscheidung, desto höher die Chance, dass der richtige Ort evakuiert wird, desto mehr verkürzt sich aber auch das Zeitfenster für eine Evakuierung.

Mag ein Hurrikan nicht mit einem ausgedehnten Starkregengebiet mit eingesprenkelten Violett-Hotspots, die ständig ihre Lage ändern, vergleichbar sein: Im Kern bleibt es bei der Unmöglichkeit, eine Sturzflut dorfweise vorherzusagen. Deshalb ist eine Debatte über „Systemversagen“ nur wahlkampftauglich, eignet sich jedoch kaum für eine nachträgliche Schuldzuweisung. Es bleibt die eigentliche Herausforderung – Klimawandel, -schutz und -anpassung. Um sie nicht annehmen zu müssen, wird weiter mit Phantom-Argumenten gekämpft. Besonders arglistig ist die spöttische Anmerkung, dass Deutschland mit zwei bis drei Prozent an der CO2-Weltemission glaubt, das Erdklima retten zu können. Ein Bauernfänger-Trick. Unterschlagen wird, dass unser Land nur ein Prozent der Weltbevölkerung stellt und der fünftschlimmste historische Sünder ist. Heißt: Heute wirkt das CO2-der letzten 100 Jahre. Und so ruckelt eine Politik weiter, die seit mehr als sieben Legislaturperioden die Wissenschaft ignoriert.

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