Bonn Für die Fahrradbranche läuft es rund

Bonn · Die Fahrradgeschäfte landauf und landab spüren eine deutlich gestiegene Nachfrage. Viele Kunden planen größere Sommertouren.

 Auch die Hersteller profitieren vom derzeitigen Fahrradboom: Rose Bikes etwa, ein Bocholter Familienunternehmen, erwirtschaftete im ersten Geschäftshalbjahr 2020 ein Umsatzplus von 20 Prozent.

Auch die Hersteller profitieren vom derzeitigen Fahrradboom: Rose Bikes etwa, ein Bocholter Familienunternehmen, erwirtschaftete im ersten Geschäftshalbjahr 2020 ein Umsatzplus von 20 Prozent.

Foto: obs/Rose Bikes

Wer sich ein neues Fahrrad kaufen möchte, bekommt momentan statt einer Beratung meist nur diese Antwort: „Zurzeit ist es uns leider nicht möglich, an das Telefon zu gehen, da alle Mitarbeiter in einer Beratung sind“, heißt es am Telefon des Bonner Fahrradgeschäfts Hübel. Und nicht nur das Telefon klingelt ununterbrochen. Auch im Geschäft tummeln sich – natürlich unter Beachtung der Hygienemaßnahmen – die Kunden. „Das habe ich in 25 Jahren noch nie erlebt“, sagt Geschäftsführer Marcus Kesper. Radhändler in ganz Deutschland profitieren seit der Wiedereröffnung ihrer Geschäfte am 20. April von einem ungeahnten Boom.

Für die Branche sind der März und April die wichtigsten Monate, vergleichbar mit dem Weihnachtsgeschäft im übrigen Handel. Dieses Jahr aber verdarb die Corona-Krise den Saisonstart: Die unmittelbaren Auswirkungen durch gestörte Lieferketten und geschlossene Läden während des Shutdown seien auch in der Radbranche heftig gewesen, erklärt der Verband des Deutschen Zweiradhandels. Die Umsatzeinbußen lagen demnach coronabedingt bei 30 bis 60 Prozent. Nun sei aber überall eine Aufholjagd zu beobachten.

Seit Wiedereröffnung Nachfrage noch größer

„Die Nachfrage ist schon extrem“, merkt auch Kesper. 2019 sei durch die Präsenz in den Medien und in der Politik bereits ein gutes Jahr für die Fahrradbranche gewesen. Doch seit der Wiedereröffnung sei die Nachfrage noch größer. „Wir haben auch Kunden von weiter her, aus Stuttgart zum Beispiel“, berichtet der Geschäftsführer aus Bonn. Pausen könnten er und seine Mitarbeiter kaum noch einlegen: „Wir arbeiten jeden Tag zwölf Stunden und samstags auch noch. Es ist Wahnsinn“, so Kesper.

Die Branche ist schon länger im Aufwind. Im vergangenen Jahr erzielte sie mit Fahrrädern und vor allem den immer beliebteren E-Bikes gut 4,2 Milliarden Euro Umsatz - 34 Prozent mehr als im Vorjahr. Zudem tendierten die Verbraucher zu hochwertigeren Rädern, so David Eisenberger, Leiter Marketing und Kommunikation beim Zweirad-Industrie-Verband, der etwa 100 Unternehmen der Fahrradindustrie vertritt. Der Durchschnittspreis lag 2019 über alle Vertriebskanäle bei 982 Euro und damit rund ein Drittel höher als 2018. Bundesweit arbeiten rund 280.000 Menschen in der Fahrradwirtschaft.

Gespartes Urlaubsgeld wird investiert

Auch Mike Thrams, Geschäftsführer des M&M-Bikeshops Troisdorf beschreibt die aktuelle Lage als „chaotisch“. Das gesparte Urlaubsgeld würden viele Menschen nun in Fahrräder – mit oder ohne elektrischen Antrieb – investieren. „Viele Kunden berichten, dass sie mit den Fahrrädern durch Deutschland fahren und Urlaub machen“, erlebt auch Kesper. Wie lange der Andrang auf sein Geschäft andauern wird, sei nicht absehbar. Doch er glaubt, „mit einem blauen Augen“ davongekommen zu sein und die Umsatzeinbußen aus den vergangenen Wochen wettmachen zu können. Einschränkungen gebe es dennoch weiterhin: „Die Lieferketten brechen zusammen“, sagt der Geschäftsführer. Bei der Sattelindustrie aus Italien gebe es beispielsweise Probleme und auch aus Frankreich werden nicht alle Produkte rechtzeitig geliefert – die „extrem hohe Nachfrage“ vereinfache die Situation nicht.

Ob das Fahrrad am Ende tatsächlich als Krisengewinner dasteht, hängt vor allem von der Infrastruktur ab, meint der Verbund Service und Fahrrad, der ebenfalls den Fachhandel vertritt. „Infrastruktur ist der Schlüssel zum Erfolg“, sagt Geschäftsführer Albert Herresthal. Schnelle Lösungen wie die „Pop-up-Bike-Lanes“ in Berlin müssten dauerhaft bestehen bleiben.

Durch Einschränkungen im ÖPNV droht Flut von Autoverkehr

Auch der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) lobt die Idee, quasi über Nacht mithilfe von Baustellenbaken und Farbstreifen Radwege einzurichten. Auch Düsseldorf wolle nun nachziehen, sagt ADFC-Sprecherin Stephanie Krone. Der wichtigste Verbraucherverband der Radfahrer befürchtet nach dem Ende der Kontaktbeschränkungen „eine ungeahnte Flut von Autoverkehr“, wenn viele Menschen aufgrund der Einschränkungen im ÖPNV lieber wieder aufs Auto setzen. Demnach haben die Bundesbürger 2019 rund 32 Millionen Fahrten mit Bus, Tram oder Bahn zurückgelegt. Pro Tag wohlgemerkt. Wenn nur ein Bruchteil dessen wieder mit dem Auto gefahren werde, drohe ein Super-Stau.

Statt jetzt mit einer Autoprämie das falsche Signal zu senden, müsse der Autoverkehr endlich dem Fahrrad Platz machen und wenn überhaupt eine Mobilitätsprämie für alle auf den Weg gebracht werden – da sind sich die befragten Verbände einig.

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