Hoffnung, Verbitterung und Erschöpfung Wie das Ahrtal das zweite Weihnachten nach der Flut angeht

Ahrweiler · Zum zweiten Mal seit dem tödlichen Hochwasser feiert das Ahrtal nun Weihnachten. Fast eineinhalb Jahre nach der Katastrophe gibt es noch zahlreiche Kontraste. Bei den Menschen an der Ahr zeigt sich teils Verbitterung.

 Ein Weihnachtsbaum steht auf einer Baustelle in der von der Hochwasserkatastrophe stark betroffenen Ortschaft Schuld.

Ein Weihnachtsbaum steht auf einer Baustelle in der von der Hochwasserkatastrophe stark betroffenen Ortschaft Schuld.

Foto: dpa/Thomas Frey

Auch im Ahr-Flutgebiet erstrahlen überall Lichter an Weihnachtsbäumen. In der abendlichen Dunkelheit wirkt das Flusstal vielerorts romantisch wie eh und je. Tagsüber zeigt sich ein anderes Bild: Wiederaufgebaute Hotels und Häuser stehen neben Gebäuderuinen, schicke neue Fassaden wechseln sich mit leeren dunklen Fensterhöhlen ab. Einheimische und Ausflügler erblicken Bagger und Baustellentoiletten. Das zweite Weihnachtsfest nach der Flutkatastrophe mit mindestens 134 Toten im Juli 2021 kündigt sich an - in einem Tal mit vielen Kontrasten.

Die parteilose Ahrweiler-Landrätin Cornelia Weigand sagt: „Es gibt zwei widerstreitende Aspekte.“ Einerseits sei schon vieles passiert. Im idyllischen Ahrweiler etwa mit Fachwerkhäusern und Stadtmauer hätten etliche Geschäfte und Gaststätten neu geöffnet. „Und im ganzen Tal sieht man, dass viele Leute wieder in ihre Häuser zurückgekehrt sind“, ergänzt Weigand. Sehr positiv sei die kürzlich verkündete dreijährige Verlängerung der Antragsfrist für den milliardenschweren Wiederaufbaufonds von Bund und Ländern bis zum 30. Juni 2026.

Andererseits ziehe sich die Beseitigung von Zerstörungen doch noch sehr lange hin. Corona, Ukraine-Krieg, Energiekrise, hohe Inflation, gestiegene Bauzinsen, Mangel an Handwerkern und Baumaterial: All dies stelle vieles auf den Kopf - an der Ahr „noch mehr als anderswo, weil wir nach der Flut eine andere Ausgangslage haben“, erklärt die auf Sylt geborene Landrätin. Daher gebe es „eine gemischte Gefühlslage“.

Teilweise herrscht Verbitterung

Rund 9000 Häuser hat die Flutkatastrophe vor fast eineinhalb Jahren verwüstet und auch Schulen, Kitas und Kirchen unter Wasser gesetzt sowie Straßen und Gleise zerstört. Der Hilfsverein „Die Ahrche“ in Ahrweiler beispielsweise will daher auch noch nächstes Jahr aktiv sein - zwar bald ohne Mittagessen, aber weiterhin mit Kaffee und Kuchen fürs soziale Miteinander sowie mit Hilfsangeboten und Veranstaltungen, wie Vereinsgründer Lucas Bornschlegl sagt.

An einem der letzten Tage mit einem warmen Mittagessen im großen Vereinszelt zeigt sich Verbitterung. Die Runde an einem Tisch will ihre Nachnamen lieber nicht nennen. Philipp erinnert sich: „Ich habe einen Elektromaschinenbau gehabt. Alles weg. Der Wiederaufbau lohnt sich nicht. Ich bin 74.“ Thomas erzählt, wegen der Zerstörung seiner vier Wände habe er „ein Jahr auf einer Feldliege im Keller gepennt“ und erst dann eine neue Wohnung gefunden, 28 Quadratmeter klein.

Inge berichtet von der Kündigung ihrer Wohnung nach dem Hochwasser, weil der Vermieter sie teurer habe sanieren und vermieten wollen. „Mit viel Glück habe ich eine andere Wohnung gefunden, sonst wäre ich jetzt auf der Straße“, sagt sie. Weniger Wohnraum nach den Flutzerstörungen: „Das treibt die Mieten hoch“, ergänzt Inge, die nach eigenen Worten noch nicht weiß, „was ich an Weihnachten mache“.

Ein Weihnachtsbaum wurde auf die Fassade eines von der Hochwasserkatastrophe stark betroffenen Hauses in der Ortschaft Schuld gemalt.

Ein Weihnachtsbaum wurde auf die Fassade eines von der Hochwasserkatastrophe stark betroffenen Hauses in der Ortschaft Schuld gemalt.

Foto: dpa/Thomas Frey

Thomas erinnert sich an eine Tiefgarage mit mehreren Ertrunkenen in der Flutnacht: „Die wollten ihre Autos noch retten.“ Philipp sagt: „Man hätte viel mehr warnen müssen. So viele Tote, das hätte nicht sein müssen.“ Auf die damals verantwortlichen Politiker ist die Runde nicht gut zu sprechen. Die Staatsanwaltschaft Koblenz und ein Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags werden auch 2023 weiter versuchen, mögliche Versäumnisse aufzuklären.

Die Hilfe ist abgeflacht

„Ahrche“-Mitarbeiter Jan Pöhler sagt, im Vergleich zum ersten Weihnachtsfest nach der Flut, also vor einem Jahr, „wollen wieder mehr Leute in ihren Familien feiern“. Inzwischen seien viele Ahr-Bewohner aus ihren Ausweichquartieren in ihre sanierten eigenen vier Wände zurückgekehrt. „Ahrche“-Gründer Bornschlegl kennt nach eigenen Worten niemanden mehr in der Kurstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler mit nicht „wenigstens einer Ein-Raum-Heizung. Aber natürlich ist dieser Winter schon rauer gewesen als der letzte“.

Die vielgelobte bundesweite Hilfswelle für das Ahrtal hat sich längst abgeflacht. „Die mediale Aufmerksamkeit ist zurückgegangen“, sagt Bornschlegl. Heute sei etwa der Ukraine-Krieg mehr in den Schlagzeilen. Das Ahrtal brauche aber neben Spenden inzwischen weniger ungelernte Helfer als vielmehr Fachleute. Für nächstes Jahr habe ihm immerhin zum Beispiel eine Gärtnerinnung 120 ehrenamtliche Experten für zehn Tage zur Gestaltung verwüsteter Gärten angekündigt.

(dpa)
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