Gebärden- oder Lautsprache Aus dem Leben einer WG für Gehörlose in Lengsdorf

Lengsdorf · Lichtsignale zeigen den Bewohner der Gehörlosen-WG in Lengsdorf an, wenn jemand klingelt. Untereinander verständigen sie sich mit Gebärden- oder Lautsprache, aber für viele Alltagssituationen brauchen sie Dolmetscher.

Aufmerksam verfolgen (v. l. n. r.) Thomas Markus, Georgi Kikadze und Angela Herbig die Gebärden von Dominic Schacht.

Aufmerksam verfolgen (v. l. n. r.) Thomas Markus, Georgi Kikadze und Angela Herbig die Gebärden von Dominic Schacht.

Foto: Stefan Hermes

Helle Blitze erleuchten für Bruchteile von Sekunden den Raum, in dem sich die Teilnehmer zum Gespräch über die Gehörlosen-Wohngemeinschaft im Ville-Huus an der Villemombler Straße getroffen haben. Die Blitze zeigen an, dass Gebärdendolmetscher Dominic Schacht „klingelnd“ vor der Türe steht. Gehörlose Menschen erleben die Welt grundlegend anders als Hörende: Sie orientieren sich visuell und sind deshalb im Gespräch immer auf Sicht- und Blickkontakt zu ihrem Gegenüber angewiesen.

„Kein tief fliegendes Flugzeug oder heiseres Krähen eines Hahns weckt sie frühmorgens, weder Verkehrsrauschen noch Baustellenlärm lenken sie von der Arbeit ab, ihr Frühling kehrt ein ohne Vogelgezwitscher und sie sind nie unfreiwillige Zeugen von Handygesprächen im Zug“, heißt es im Buch „Augenmenschen“ von Johanna Krapf. Rund 80.000 gehörlose Menschen leben nach Schätzungen des Deutschen Gehörlosen-Bundes in Deutschland. Viele verständigen sich in der Gebärdensprache. Andere beherrschen die Lautsprache und lesen von den Lippen ab.

Die veraltete Bezeichnung „taubstumm“ empfinden Betroffene diskriminierend. „Doch selbst in der Uniklinik scheint das noch nicht bekannt zu sein“, lässt Georgi Kikadze den Gebärdendolmetscher übersetzen. Gerade sei der gehörlose Betreuer mit einem Klienten zu einem Audiogramm in der Klinik gewesen und habe anschließend in der Diagnose gelesen: taubstumm. „Das dürfte dort nicht passieren“, sagt er. Die Gehörlosen könnten als taub oder als Menschen mit einer Hörbehinderung bezeichnet werden. Ständig stießen Betroffene im Alltag auf Barrieren, die ihnen das Leben schwer machen, vor allem dann, wenn kein Dolmetscher zur Verfügung stehe. Laut Kikadze haben Gehörlose zwar bei Amtsgängen oder, wenn sie eine Ausbildung machen wollen, ein Anrecht auf einen Dolmetscher. Spontanität sei für Gehörlose allerdings unmöglich.

Der gehörlose Thomas Markus berichtet, er sei bei seinem letzten Besuch im Jobcenter aufgefordert worden, „den Mund aufzumachen“. „Sie sollen sprechen!“, habe ein Mitarbeiter zu ihm gesagt. Alle Bemühungen, seine Taubheit zu erklären, seien ungehört geblieben. „Meist wird von uns verlangt, sich schriftlich auszudrücken“, ergänzt Kikadze. Der Georgier, der seit 2014 in Deutschland lebt, hatte zunächst vor, zu studieren. Nach zwei Jahren vergeblichen Bemühens um Anträge und einen Dolmetscher habe er diese Pläne aber aufgegeben, sagt er.

Keine weltweit verständliche Gebärdensprache

Innerhalb eines Jahres lernte Kikadze die deutsche Gebärdensprache und erweiterte damit seine Kenntnisse auf sieben Sprachen. Die Annahme, dass es eine in der ganzen Welt verständliche Gebärdensprache gebe, sei leider falsch, sagt er. Genauso falsch sei die Vermutung vieler Hörender, dass man sich mit Gebärden nur über konkrete Alltagsdinge austauschen könne und nicht über abstrakte Themen. In Gebärden- und Lautsprache sind laut Kikadze Diskussionen über Philosophie, Literatur oder Politik möglich. Wie in jeder anderen Sprache gelte allerdings auch hier: Je größer der Wortschatz, desto besser sind die Ausdrucksmöglichkeiten.

Natürlich seien auch Ironie oder Witze in der Gebärdensprache möglich, erklärt der Betreuer. Die Lebenswelt gehörloser Menschen bleibe den meisten hörenden Menschen verschlossen und unbekannt. Oftmals würden gehörlose Menschen ähnlich wie blinde oder körperlich beeinträchtigte Menschen fälschlicherweise für geistig behindert gehalten, sagt Kikadze.

Unterstützung bei Amts- und Arztbesuchen und Jobsuche

„Kommunikation ist insgesamt schwierig“, sagt Angela Herbig. Mit ihrem Hürther Betreuungsunternehmen Signcom will sie im Lengsdorfer Ville-Huus Gehörlosen in zwei Wohngemeinschaften eine größtmögliche Selbstständigkeit verschaffen. Sie und ihre Mitarbeitenden unterstützen bei Amts- und Arztbesuchen bei der Suche nach passenden Berufe. Aufgrund seiner psychischen Erkrankung ist Klient Thomas Markus derzeit in den Bonner Werkstätten beschäftigt. Der Beruf des Malers und Anstreichers habe ihn krank gemacht, sagt er. Ein Therapeut, der Gebärden beherrscht, ist für ihn erst im etwa drei Stunden entfernten Lengerich im Tecklenburger Land erreichbar.

Als Markus in die Lehre gegangen sei, habe es für Gehörlose kaum eine Möglichkeit gegeben, einen Beruf zu erlernen, sagt Herbig: In Essen konnte man Maler, Drucker oder Schneider werden. Alles Berufe, die sich beim Zuschauen vermitteln lassen. Da habe man keine Wahl gehabt, sagt Herbig. Auch heute gebe es zwar ein Gesetz, das Gehörlosen Barrierefreiheit garantiere, doch der Antragsweg, eine ständige dolmetschende Begleitung für eine Ausbildung oder ein Studium zu bekommen, sei ausgesprochen mühsam und langwierig. „Ich behaupte, dass die tauben Menschen die größte Diskriminierung erfahren“, sagt Herbig. Sie hätten nicht die gleichen Bildungschancen wie Hörende. In der Region gebe es nur eine einzige Schule für Menschen mit Hörbehinderung in Köln. Laut Herbig können aber auch dort nicht alle Lehrer die Gebärdensprache, obwohl sie gehörlose Kinder unterrichteten.

„Man kann sich die USA als Vorbild nehmen, wo schon allen Kindern in der Grundschule die wesentlichen Gebärden zur Verständigung mit Gehörlosen beigebracht werden“, übersetzt Schacht die mit ausdrucksstarker Mimik versehenen Gebärden von Kikadze. „Hier sollte man möglichst schon spielerisch im Kindergarten damit anfangen“, ergänzt Herbig.

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