Interview mit Achim Juchem Grafschafts Bürgermeister glaubt weiterhin an rasante Entwicklung

Interview | Grafschaft · Grafschafts Bürgermeister Achim Juchem spricht im GA-Interview über Wirtschaftsförderung, Einnahmeausfälle und Perspektiven der Gemeinde.

Der Grafschafter Innovationspark mit dem Haribo-Werk im Vordergrund

Der Grafschafter Innovationspark mit dem Haribo-Werk im Vordergrund

Foto: Martin Gausmann

Trotz massiver Einnahmeeinbrüche investiert die Gemeinde Grafschaft weiter, um sich für die Zukunft aufzustellen. Bürgermeister Achim Juchem (CDU) glaubt, dass die rasante Entwicklung der 11.000 Einwohnerkommune ungebrochen fortgesetzt wird. Mit ihm sprach Victor Francke.

Die Gewerbesteuer ist in der Grafschaft massiv eingebrochen. Auch gibt es Mindereinnahmen beim Anteil an der Einkommensteuer. Trotzdem will die Gemeinde kräftig weiter investieren. Wie bekommen Sie das große Loch gestopft?

Achim Juchem: Die als Folge der Corona-Pandemie auftretenden Steuermindereinnahmen treffen derzeit Bund, Länder und Kommunen sehr hart. Ich erwarte durch die angekündigten Ausgleichszahlungen von Bund und Land gerade zur massiv eingebrochenen Gewerbesteuer eine deutliche Kompensation. Leider werden wir aber auch über massive Kreditaufnahmen zwischenfinanzieren müssen.

Die Grafschaft hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Vorzeigekommune gemausert. Ist diese positive Entwicklung vorerst wegen der Einnahmeeinbrüche gestoppt?

Juchem: Nein. Seit Jahren verfolgen wir die Strategie, uns breit aufzustellen. Rat und Verwaltung verfolgen dabei stets mehrere Ziele gleichzeitig: sei es den kontinuierlichen Ausbau unserer Kitas und Grundschulen, die gezielte Ansiedlung von Firmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und höheren Steuereinnahmen, die Förderung unserer Vereine, den Ausbau von Radwegen oder die Schaffung von Angeboten für ältere Menschen. Daneben investieren wir hohe Beträge in die Starkregenvorsorge und zunehmend in den ökologischen wie energetischen Ausbau unserer Gemeinde.

An welchen wesentlichen Investitionen halten Sie fest?

Juchem: Angesichts einer hohen Verschuldung haben wir uns im Rat dafür ausgesprochen, bereits begonnene oder kurz bevorstehende Projekte fortzuführen und sie aus reinen Kostengründen zunächst nicht zu stoppen. Die wesentlichen Investitionsmaßnahmen sind dabei der Bau des Mehrfunktionenhauses in Ringen, das eine neue Kindertagesstätte und feste Räume für die Tagesangebote für Senioren unter einem Dach vereint. Weiterhin steht der Baubeginn der Bachrenaturierung in Niedernierendorf und der damit verbundenen weiteren Hochwasserrückhaltung an. Nicht zu vergessen der Ausbau der Landesstraße sowie der dortige Bau eines Radweges. Selbstverständlich werden wir auch weiterhin in unsere Feuerwehr investieren. Hier erfolgt gerade die Beschaffung von drei Großfahrzeugen und mehreren kleineren Feuerwehrfahrzeugen. Außerdem werden wir die räumliche Situation in unseren Grundschulen und Kindertagesstätten den Erfordernissen anpassen.

Der Innovationspark bildet inzwischen so etwas wie das wirtschaftliche Rückgrat der Gemeinde. Gibt es da überhaupt noch Möglichkeiten einer Ansiedlung?

Juchem: Der Innovationspark ist de facto vermarktet. Die wenigen noch vorhandenen Flächen benötigen wir für Maßnahmen der Gemeinde, wie zum Bau einer Lagerhalle zum Hochwasserschutz, als Standort des DRK, als Betriebsstätte der Regionalwerke Grafschaft oder für kleinere Erweiterungen bereits angesiedelter Unternehmen.

Haribo ist nun seit 2018 in der Grafschaft zu Hause und produziert dort seine Süßwaren. Wie sehr hat dies die Grafschaft verändert?

Juchem: Nun, zunächst optisch nimmt man die Ansiedlung von Haribo ja weithin wahr. Darüber hi­naus haben inzwischen eine Vielzahl von Menschen aus der Grafschaft und den Nachbarkommunen dort einen neuen Arbeitsplatz in Verwaltung wie Produktion gefunden. Von der finanziellen Seite her hat sich das Aufkommen an Gewerbe- und Grundsteuer stark erhöht. Wie erwartet, hat mit der Besiedelung des Innovationsparks insgesamt das Verkehrsaufkommen zugenommen, aber auch der örtliche Rewe-Markt und Gewerbetreibende merken die durch die Beschäftigten von Haribo und den weiteren Betrieben im Innovationspark ausgehende Nachfrage.

Seit der damals nicht ganz freiwilligen Gründung der Gemeinde im Jahr 1974 hat sich die Grafschaft fortlaufend verändert. Auch in der Einwohnerzahl....

Juchem: Die Einwohnerzahl hat sich durch den starken Zuzug fast verdoppelt, zwei große Gewerbegebiete mit derzeit rund 4000 Arbeitsplätzen sind entstanden, es wurde und wird viel in die Infrastruktur investiert.

 In der Perspektive könnte Haribo ja noch weitere Produktionsstraßen am vorhandenen Werk anbauen, da der Konzern ja eine Grundstücks-Vorhaltepolitik betrieben und sich Areale gesichert hat. Womit rechnen Sie? Wird Haribo Grafschaft irgendwann noch größer?

Juchem: Mit Blick auf die Firmengeschichte von Haribo ist zunächst festzuhalten, dass die Inhaber stets sehr langfristig gedacht haben. An dieser Philosophie hat sich nach meiner Wahrnehmung auch nichts verändert. Haribo hat ein großes Firmengrundstück erworben und so überplant, dass auf dem jetzigen Areal Erweiterungen problemlos möglich sind. Von daher gehe ich davon aus, dass es in den nächsten Jahren durchaus eine zweite Produktionshalle geben kann. Insgesamt sind vier Produktionshallen auf dem Grundstück möglich.

Es gibt im Innovationspark, in dem jetzt schon rund 2000 Menschen arbeiten, derzeit kein Restaurant. Eine mobile Imbissbude fährt schon mal vor. Das war es. Geschäfte befinden sich nicht dort. Wie wichtig wird dort eine Nahversorgung?

Juchem: Eine zumindest eingeschränkte Nahversorgung gehört heute zu Gewerbegebieten dieser Größenordnung dazu. In der Grafschaft sind wir bemüht, auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, nach Möglichkeit stets mehrere Aspekte in ein Projekt einfließen zu lassen. Sofern die gerade in der Diskussion befindliche Entwicklung eines Einkaufszentrums am Kreisverkehr bei Beller tatsächlich umgesetzt werden sollte, würden natürlich auch die im Innovationspark Beschäftigten davon profitieren. Sollte der Rat sich nach der im September anstehenden Einwohnerbefragung für ein neues Nahversorgungszentrum aussprechen, werden mehrere Jahre vergehen, bis jemand dort tatsächlich einkaufen oder essen gehen kann. Gerade mit Blick auf das Thema Essen brauchen wir aber schneller eine fußläufig zu erreichende Lösung. Bekanntlich steht noch die abschließende Beratung über den dort vorgesehenen Bau des zentralen Omnibusbahnhofs an. Im Herbst wird in den Gremien ein Lösungsansatz vorgestellt werden, der an dem Busbahnhof auch einen Imbiss oder ein Bistro, eine Toilettenanlage und ein Fahrradparkhaus mit Lademöglichkeiten für E-Bikes vorsieht.

Können Sie die vermutlich lokal stark begrenzten Widerstände gegen eine Verlagerung des Ringener Rewe-Marktes an den Inno-Park und den Bau eines neuen Einkaufszentrums verstehen?

Juchem: Mit Blick durch eine lokale Brille gerade der Ringener und der angrenzenden Bölinger Bürger, die fußläufig zum Einkaufen in den Rewe-Markt gehen können, kann ich die Haltung nachvollziehen. Nun ist aber auch dieses Thema deutlich vielschichtiger. Mit dem Blick über diesen Tellerrand hinaus ist das in Rede stehende Nahversorgungszentrum mit Rewe, Aldi und einer Drogerie zu begrüßen. Einkäufe, die aktuell von vielen Grafschaftern in den umliegenden Kommunen mit einem oftmals größeren Fahraufwand erfolgen, könnten so vor Ort erledigt werden.

Befürchtet wird ja ein Ausbluten des Ringener Ortskerns, wenn man den Bereich des derzeitigen Rewe-Marktes so bezeichnen darf.

Juchem: Neben dem Kernthema Einkaufen wissen wir aus den Beratungen zur der Entwicklung unserer Grundschulen und Kitas, dass wir in Ringen die Grundschule erweitern müssen und dafür sinnigerweise den in Teilbereichen zur Renovierung anstehenden Kindergarten einbeziehen. Dies bietet gleichzeitig die Möglichkeit, den vorhandenen Kindergarten an anderer Stelle mit einem größeren Garten und von den räumlichen Gegebenheiten her unter den heutigen Anforderungen einer Kita mit Ganztagsbetrieb und der Aufnahme von Kindern ab einem Jahr umzusetzen. Nimmt man dann noch die strengeren gesetzlichen Nutzungsregelungen für unsere Bürgerhäuser mit in die Gewichtung, so ergeben sich verschiedene Nutzungskonzepte für eine gute Entwicklung in Ringen.

Zurück zum Innopark: Dort parken seit Monaten Lkw-Fahrer, die am kleinen Rastplatz an der A61 keine Abstellmöglichkeit mehr finden. Nur 14 Lkw-Parkplätze gibt es dort, gebraucht werden vermutlich einhundert. Wäre nicht der Bau eines Autohofs mit Verpflegungs-, Wasch- und WC-Möglichkeit auf Grafschafter Gebiet sinnvoll?

Juchem: Die Lkw-Fahrer würden dies mit Sicherheit begrüßen. Denn die Kapazitäten auf den Rastanlagen der Autobahnen reichen schon lange nicht mehr aus. Für die Gemeinde ist dies aber kein Thema. Die Erweiterung des kleinen Rastplatzes inklusive des Baus einer längst überfälligen Toilettenanlage ist beim Land seit geraumer Zeit in der Planung. Aus der Erfahrung mit den beiden Gewerbegebieten in Gelsdorf und dem Innovationspark wären vor Ort kleinere bewirtschaftete Parkplätze mit einer Toiletten-/Duschanlage für die Fahrer sinnvoll, die ortsansässige Firmen anfahren. Damit ließe sich das Parken von Lkw gezielt steuern und so mancher Missstand abstellen. Ansonsten ist es eine Angelegenheit des Bundes.

Als eine der wenigen Verwaltungen setzen Sie auf eine besondere Mitarbeiterpflege: kostenloses Obst wird gereicht, Massagen werden angeboten. Wie kommt das eigentlich in der Belegschaft an?

Juchem: Die Belegschaft der Gemeinde ist insbesondere durch den starken Ausbau unserer Kindertagesstätten wie auch der Betreuenden Grundschulen auf inzwischen knapp über 200 Mitarbeiter angewachsen, die in den vergangenen Jahren große Herausforderungen gemeistert haben. Dabei ist die Belegschaft mehr und mehr zu einer großen Familie zusammengewachsen. Für seine Familie ist man da. Selbstverständlich auch als kommunaler Arbeitgeber. Obst ist gesund. Und Mitarbeitern, die auch körperlich gefordert werden, kommt ab und an ein Besuch beim Physiotherapeuten zugute. Dabei stehen gar nicht so sehr die sehr überschaubaren Kosten, sondern vielmehr die damit verbundene Wertschätzung im Vordergrund.

Kaum eine Verwaltung ist so innovativ wie die Grafschafter: Sie war die erste, die bereits vor Jahren Rat und Ausschüsse mit Tablets ausstaffiert und die papierlose Sitzungsarbeit eingeführt hat, große Monitore übertragen Sitzungsvorlagen und gebeamte Erklärungen für Zuschauer, die so optimal Sitzungen verfolgen und verstehen können. Sind solche technischen Finessen inzwischen in der Verwaltung und Kommunalpolitik unabdingbar?

Juchem: Na ja, es ist gar nicht so lange her, da wurde auch in deutschen Verwaltungen noch mit der Schreibmaschine gearbeitet. Die heutige Arbeitswelt ist sehr schnelllebig geworden, zudem haben wir ein immer strammeres Arbeitspensum auch in unseren Gremien zu absolvieren. In der Sitzungszeit nach den Sommerferien stehen alleine in unseren Ausschüssen rund 90 Punkte auf der Agenda. Aus Gründen der Effektivität, aber auch unter dem Gesichtspunkt, die Arbeit für den Bürger nachvollziehbar zu machen, setzen wir bewusst auf die Visualisierung von langen Beratungsvorlagen. Dies ersetzt natürlich nicht das gewissenhafte Lesen von im Durchschnitt gut 10.000 Seiten an Sitzungsunterlagen im Jahr.

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