Zeitzeuge Henry Ariel Schachter Holocaust-Überlebender spricht über Flucht und Antisemitismus

Bonn · Als Zeitzeuge und Kind jüdischer Eltern hat Henry Ariel Schachter die riskante Flucht seiner Familie vor den Nationalsozialisten hautnah miterlebt. Der Holocaust-Überlebende hat Bonnern erklärt, warum sich die Geschichte nicht wiederholen darf.

 Henry Ariel Schachter (r.) hat den Holocaust überlebt und berichtet in Bonn von der Flucht seiner Familie vor den Nationalsozialisten.

Henry Ariel Schachter (r.) hat den Holocaust überlebt und berichtet in Bonn von der Flucht seiner Familie vor den Nationalsozialisten.

Foto: Christine van den Bongard

Die Erinnerung an seinen fünften Geburtstag, als er seine Mutter zum letzten Mal gesehen hat, ließ Henry Ariel Schachter merklich stocken. Im Rahmen eines Zeitzeugengesprächs schilderte der 83-Jährige interessierten Bonnern im Kirchenpavillon am Kaiserplatz, wie er nach der Flucht seiner Eltern im Nationalsozialismus als Kind einer jüdischen Familie überlebt hat. Pfarrer Martin Engels, Leiter des Evangelischen Forums Bonn, moderierte die Veranstaltung, die unter dem Motto „Wir dürfen nie vergessen“ stand.

Schachters eindrückliche Botschaft an das Publikum lautete: „Hasserfüllte Worte enden in hasserfüllten Taten.“ Dies hat der Sohn jüdischer Eltern mit polnischer Abstammung, der 1939 in Berlin geboren wurde, am eigenen Leib erfahren müssen. In Folge der Reichspogromnacht 1938 beschlossen seine Eltern kurz nach seiner Geburt vor den Nationalsozialisten zu fliehen: Über Polen und die Tschechoslowakei, gelangten sie nach Belgien – eine riskante Odyssee vor allem für Schachters Mutter, die Belgien nur mittels Schmuggler und gefälschter Papiere erreichte.

Neuer Name, neue Religion, neue Identität

Nachdem sich die Situation für jüdische Menschen auch in Belgien zuspitzte, vermittelten Schachters Eltern ihr Kind schließlich an eine christliche Familie in Brüssel, um ihm so vermutlich das Leben zu retten. „Ich bekam einen neuen Namen, eine neue Religion, eine neue Identität“, so Schachter. Seine Mutter hat er bei einem kurzen Besuch an seinem fünften Geburtstag zuletzt gesehen. Um sich von der Realität abzulenken, habe er sich in Comics wie „Tim und Struppi“ oder „Die Geschichte von Babar, dem kleinen Elefanten“ hineinversetzt. „Die Abenteuer der Hauptfiguren waren meine Abenteuer“, erzählte Schachter.

Anhand von Karten, Bildern und Videos beschrieb Schachter eindrücklich, wie die Nationalsozialisten jüdische Menschen zu einem Feindbild stilisiert haben und wie präsent Antisemitismus heutzutage noch immer ist. Im offenen Gespräch mit dem Publikum beantwortete Schachter auch die Frage, wie man Antisemitismus bekämpfen kann. „Wir müssen aufpassen was wir sagen, nicht nur wiederholen, was wir hören, sondern darüber nachdenken“, mahnte er. Junge Menschen sollten wissen, warum er zu ihnen spreche: „Es darf nie wieder passieren."

Eltern aus Belgien nach Auschwitz deportiert

Immer wieder gab er Einblicke in Momente der Flucht, die das Publikum spürbar bewegten. So habe laut Schachter eine einzige falsche Entscheidung schließlich zum Tod seiner Eltern geführt. Ein Gestapo-Offizier erklärte seinem Vater bei der Verhaftung 1944, dass ein Missverständnis vorgelegen hat. „Wenn Sie nicht auf dem Balkon geschaut hätten, wären Sie nicht hier. Wir haben jemand anderen gesucht“, so der Gestapo-Offizier laut Schachter. Seine Eltern wurden schließlich aus Belgien ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und starben einige Monate später in den Konzentrationslagern Bergen-Belsen und Flossenbürg.

Vor drei Jahren ist Schachter erstmals wieder in seine Geburtsstadt Berlin zurückgekehrt, um sich die Arbeit Berliner Studierender im Jüdischen Museum anzuschauen – 79 Jahre nach der Flucht seiner Familie aus Deutschland. Dort fand er beispielsweise seine Geburtsurkunde und den Pass seiner Mutter wieder. „Als ich den Fingerabdruck und die Kennkarte meiner Mutter gefunden habe, hat mich das zu Tränen gerührt. Ich habe nichts von ihr“, erzählte Schachter.

Seit zehn Jahren teilt der Holocaust-Überlebende seine Geschichte mit Schülern und Studenten, vor allem in seiner aktuellen Heimat Südengland sowie in Wales und Nordirland, wofür er in diesem Jahr die "British-Empire-Medaille" erhält. Schachter berichtet noch bis Freitag, 6. Mai, an verschiedenen Schulen in Bonn und der Region von seiner Geschichte. Die Veranstaltungen finden in Kooperation mit der Johanniskirche Duisdorf statt.

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