Bewegte Lebensgeschichte als Buch Die drei Fluchten der Sonja Berg führen nach Godesberg

Bad Godesberg · In den 1980er Jahren erzählte eine ältere Godesbergerin dem damaligen Schüler Daniel Becker von ihren Emigrationen, der Verfolgung zur NS-Zeit und dem Leben in Südafrika. Jetzt hat er darüber für eine spannende Biografie recherchiert, die er am 2. Juni in Bad Godesberg vorstellt.

 Sonja Berg mit der Familie 1958 in Südafrika. Wenige Jahre später wurden sie und ihr Mann in Godesberg heimisch.

Sonja Berg mit der Familie 1958 in Südafrika. Wenige Jahre später wurden sie und ihr Mann in Godesberg heimisch.

Foto: privat

Es war eine schier unglaubliche Lebensgeschichte, die Ende der 1980er Jahre der damalige Schüler Daniel Becker von einer betagten Dame in der Muffendorfer Bürvigstraße hörte: 1918 hatte diese Frau namens Sonja Berg als deutsch-lettisches Kind aus St. Petersburg vor den Bolschewiken, 1934 als Jüdin vor den Nazis aus Berlin und 1962 als politische Kritikerin aus dem Südafrika der Apartheit emigrieren müssen. Dies erzählte die damals weit über 80-Jährige persönlich in aller Ruhe dem erstaunten Zwölftklässler. Der hatte für seinen Geschichte-Leistungskurs im vormaligen Heinrich-Hertz-Gymnasium eigentlich nur ein paar Eindrücke von Zeitzeugen der Russischen Revolution sammeln wollen. So war der Kontakt zu der Bewohnerin des pittoresken "Hauses Wilhelmine" entstanden.

Dort breitete die geistig höchst agile Dame, assistiert von ihrem Mann Heinz, einen so atemberaubenden Lebenslauf vor dem Schüler aus, dass sich daraus frappierend viele Berührungspunkte mit noch weitaus mehr geschichtlichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts ergaben. Heute, gut drei Jahrzehnte später, hat der inzwischen 54-jährige Daniel Becker über die jüdische Familie seiner Gesprächspartnerin eine aufwendig recherchierte, spannende Biografie geschrieben.

 Buchautor Daniel Becker

Buchautor Daniel Becker

Foto: privat

Faszinierende Lebensgeschichte lässt Becker nicht los

Den als Politikberater zu Klimaschutz und Energie tätigen Volkswirt hat die faszinierende Lebensgeschichte der zum Schluss in Godesberg lebenden Jüdin nicht mehr losgelassen. Erinnerte er sich richtig an die über mehrere Abende verteilten Erzählungen der alten Dame damals im Parterre des Hauses Bürvigstraße 26?

Nach Sonja Bergs Tod 1995 hat sich Becker also über die Jahre auf Spurensuche in Archive begeben. Er hat Kontakt zu ihren auf der Welt verstreuten Verwandten aufgenommen. Becker ist nach Kalifornien zu ihrer Tochter Stephanie und in ihre Geburtsstadt St. Petersburg aufgebrochen - zu einem Sonja Berg bis zu ihrem Lebensende unbekannten Neffen Leonid. Becker hat für seine Gesprächspartnerin Familiengeheimnisse über in den Weltkriegen verschollene Verwandte aufgedeckt, weil er unbedingt noch Details ihrer Lebensgeschichte verifizieren wollte.

Aus vielen Teilen die Biografie zusammengesetzt

Die wichtigste Stütze war ihm dabei der Nachlass Sonja Bergs, der sich in Kalifornien in acht großen Kisten voller Briefe fand. „Und daraus wurde mir die verloren geglaubte Erzählung wieder lebendig: das Petersburger Leben um 1900, die Russische Revolution, die abenteuerliche Flucht nach Deutschland und die Zeit im Süden Afrikas“, sagt Becker.

 Sonja Berg 1912 in St. Petersburg

Sonja Berg 1912 in St. Petersburg

Foto: privat

Die alte Dame mit dem Haarnetz über dem gelockten Haar war also wirklich als Kind in den Wirren der Russischen Revolution mit den Eltern gerade noch aus St. Petersburg entkommen. Und die Umstände waren keineswegs so romantisierend Hollywood-reif, wie es sich der Schüler Daniel Becker, inspiriert vom bekannten Film „Doktor Schiwago“, vorgestellt hatte. Es grenzte tatsächlich an ein Wunder, dass die kleine, im Zug verschwundene Sonja auf der Flucht wieder mit ihren Eltern zusammentraf.

Als selbstbewusste Fotografin in Berlin

Das Buch zeigt die dann erwachsene Protagonistin als selbstbewusste Fotografin in Berlin, bis die Nazis sie zur neuerlichen Flucht zwangen. Andere Angehörige wurden Opfer des Holocaust. Sonja Berg landete zu ihrem Glück im fernen Südafrika, wo sie eine Familie gründete – und nach Jahrzehnten durch die Apartheitspolitik des Regimes mit seinen rassistischen Gesetzen und seiner brutalen Geheimpolizei wieder vom Schicksal eingeholt wurde. Es kam nur die Emigration in Frage. Ab 1962 lebte Sonja Berg in Bad Godesberg, anfangs in der Steinstraße 21. Ihr Mann Heinz war ein Nachfahre der bekannten jüdischen Kaffeeröster-Dynastie Zuntz, der nach der Rückübertragung des Unternehmens an seine Familie ab 1962 die Bonner Rösterei wirtschaftlich wieder auf die Beine stellen wollte.

 Sonja Berg 1932 in Berlin.

Sonja Berg 1932 in Berlin.

Foto: privat

Die Godesberger Jahre des Ehepaars von 1962 bis 1995 seien deshalb im Buch zwar nicht die spektakulärsten, erläutert Becker. Dennoch seien sie eine wichtige Station gewesen, weil die erinnerten Episoden von Sonja Bergs abenteuerlichem Leben Folgen für ihre letzten Jahrzehnte in der Bonner Republik hatten.

Engagiert in der Menschenrechtsarbeit

Sie und ihr Mann waren in der Bundeshauptstadt zu Mitgründern einer der ersten deutschen Amnesty-International-Gruppe geworden. Die Zeit sei geprägt gewesen vom Kalten Krieg, von latenter Kriegsangst und Sehnsucht nach globaler Entspannung, berichtet Becker. Die Bergs seien deshalb bewusst in der Menschenrechtsarbeit aktiv und mit dem bekannten Schriftsteller Lew Kopelew und anderen sowjetischen Emigranten befreundet gewesen.

„Was 1989 geschah, hätte niemand zu träumen gewagt - inzwischen hat man es für selbstverständlich gehalten“, meint Becker über die Jahre, als der Eiserne Vorhang fiel, worüber sich Sonja Berg aber wegen einer Erkrankung nicht mehr recht freuen konnte. In Bonn habe das Paar einen großen Bekanntenkreis gehabt, sagt der Buchautor. „Ich möchte deshalb auch hier die Erinnerung an Sonja und Heinz Berg lebendig erhalten.“

Im Handel erhältlich: Daniel Becker, Die drei Emigrationen der Sonja Berg. Biografie einer jüdischen Familie, Osburg Verlag 2022, 24 Euro. Am 2. Juni ab 19 Uhr stellt er sein Buch in der Parkbuchhandlung, Am Michaelshof 4b, vor. Kontakt: Tel. 0228/35 21 21.

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