Kommentar Es kann keine Normalität geben

Paris · Wenn Bundespräsident Joachim Gauck heute Nachmittag das französische Dorf Oradour-sur-Glane besucht, weiß er, dass die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich auch fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eine nicht erledigte Aufgabe ist.

Wenn Bundespräsident Joachim Gauck heute Nachmittag das französische Dorf Oradour-sur-Glane besucht, weiß er, dass die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich auch fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eine nicht erledigte Aufgabe ist. Er weiß, dass es nie Normalität zwischen beiden Ländern geben kann. Oradour steht für die schlimmsten Gräueltaten, die die Nazis in Frankreich verübten. Und Gauck weiß auch: Es brauchte diese fast 70 Jahre, um diese Geste des Gedenkens wagen zu können.

Oradour (und das, was sich mit diesem Ort verbindet) steht in auffälligem Kontrast zur so oft gepredigten neuen Normalität im deutsch-französischen Verhältnis. Ein Normalität, die im 50. Jahr des beiderseitigen Freundschaftsvertrages so oft beschworen wird und die doch nur die halbe Wahrheit ist. Deutschland und Frankreich haben mindestens sechs gute Jahrzehnte hinter sich, Jahrzehnte, in denen neue Bindungen gewachsen sind, beeindruckende Partnerschaften entstanden, Wunden vernarbt sind, aber einige - wie die von Oradour - werden noch lange nicht verheilen.

Das spricht natürlich nicht im Geringsten gegen das Konzept von Gedenken und Aussöhnen, wohl aber gegen voreilige Beteuerungen von Normalität. Acht Millionen junge Menschen haben sich in den vergangenen fünfzig Jahren im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerks getroffen. Eine beeindruckende Zahl, aber genauso richtig ist: Von der Bedeutung der deutsch-französischen Aussöhnung sind junge Menschen heute immer schwerer zu überzeugen, für sie, die nicht mal mehr die deutsche Teilung erlebt haben, ist der Zweite Weltkrieg ferne, ferne Geschichte. Für viele, viele Franzosen ist er das nicht.

Die propagierte Normalität ist noch aus einem anderen Grund eine gewagte Bewertung. Wer sich die Entwicklung der politischen Beziehungen zwischen Berlin und Paris anschaut, muss zu dem Ergebnis kommen: Man kann die Normalität auch übertreiben. Anders gesagt: Das deutsch-französische Verhältnis brauchte dringend eine Wiederbelebung. Denn politisch geht zwischen beiden Staaten momentan nicht viel. Vergangen die Zeiten eines Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, vergangen auch die eines Helmut Schmidt und Valéry Giscard D'Estaing und selbst die eines Helmut Kohl und François Mitterrand. Geschäftsmäßigkeit herrscht, da kann man sich so viel duzen wie man will. Aktuellstes Beispiel: das Auseinanderdriften beider Länder im Syrien-Konflikt. Frankreich an der Seite der USA, Deutschland nicht.

Gauck hat gestern den zaghaften Versuch einer neuen Annäherung gemacht, als er die französischen Reformanstrengungen lobte. , die Deutschland bereits hinter sich hat. Aber selbst das hat mit dem deutsch-französischen Motor seligen Angedenkens nicht viel zu tun. Das deutsch-französische Verhältnis ist normal, zu normal.

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